12.07.2020
Buchrezension: Leben und gleichzeitig sterben







Braun, Sarah, Lakovits, Udo, Strachota, Andrea: Leben und gleichzeitig sterben -Diagnose ALS, Mabuse – Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2020

„Ich habe mich mehr zu einer Im – Moment – Lebenden entwickelt. Ich mache viele Pläne, aber ich fühle nicht mehr vor.“ (S.278)
Das formuliert Sarah Braun – Ende zwanzig,  und Bildungswissenschaftlerin vier Jahre nach Erhalt ihrer Diagnose. Da benötigt sie bereits eine 24 Stunden Assistenz.
Es war ihr Wunsch ein Buch über jene Menschen zu schreiben, die sich trauen, einen unvorhersehbaren Weg mit vorhersehbarem Ende gemeinsam mit ihr zu gehen.

Dabei kommen alle selbst zu Wort, das persönliche und professionelle Umfeld eingeschlossen. Den Rahmen und das verbindende Element bilden die Texte der Autorin, in denen sie ihr Erleben in den unterschiedlichen Stadien der Krankheit reflektiert.


Den in Form narrativer Interviews gestalteten Beiträgen stellt Sarah Braun jeweils einen Steckbrief voran, in welchem sie sich selbst zur befragten Person in Beziehung setzt. So beantwortet sie grundsätzlich die Fragen nach Beruf, dem Anlass des Kennenlernens oder einer gemeinsamen schönen Erinnerung und stellt somit der Leserin / dem Leser die Person vor, die im Anschluss ihre Beziehung zu Sarah beschreibt. So finden sich dann z.B. die Darstellung des behandelnden Neurologen, der die Diagnose der amyotrophen Lateralsklerose stellt oder die der Physiotherapeutin.


Ein beeindruckendes Netzwerk von Freunden aus Kindheit und Studienzeit in Wien, der langjährige ehemalige Lebensgefährte von Sarah, Sportkameraden und WG Mitbewohner – alle kommen in sehr individuell gestalteten Beiträgen zu Wort. Je ein Foto – meist zusammen mit Sarah – gibt den Schreibenden ein Gesicht und vermittelt einen Eindruck von der Beziehung des Schreibenden zur Autorin.

Bewusst und aus verständlichen Gründen der Rücksichtnahme spart Sarah Braun ihre Familie in dieser Darstellung aus. Damit bleibt dieser sehr persönliche Bereich geschützt.
Die Autorin verfasste das Buch mit Hilfe der Schreibassistenz von Udo Lakovits und durch eigenes Fixieren von Buchstaben mit Hilfe eines Computerschreibprogrammes,
welches ihren individuellen Pupillenabstand und die Augenbewegungen misst.
Beeindruckend sind Sarah Brauns Überlegungen zum Sinn von Leben und Sterben, zu dem, was bleibt. Dabei setzt sie Gedanken von Martin Buber und Viktor Frankl in Beziehung zu ihrer Lebenssituation.

 

Die Anregung zum Buch gab Andrea Strachota, Professorin am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien (Arbeitsbereich Heilpädagogik und Integrative Pädagogik). In deren Seminar zur (heil)pädagogischen Relevanz von Leben, Sterben und Tod hielt Sarah Braun einen Vortrag – der Beginn einer Zusammenarbeit, aus der dieses berührende Buch entstanden ist. Es wurde mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet.



Sybille Lenk