21.02.2018
Rezensionen zu empfohlener Literatur aus den Bereichen Heilpädagogik, Heilerziehungspflege und Sozialpädagogik







In unregelmäßigen Abständen werden auf der Homepage Rezensionen zu empfohlener Literatur aus den Bereichen Heilpädagogik, Heilerziehungspflege und Sozialpädagogik veröffentlicht.


Diese wurden von Frau Sybille Lenk verfasst und sind in unterschiedlichen Ausgaben der Zeitschrift
"Öffnet externen Link in neuem Fensterheilpaedagogik.de" (Hrsg.: Fachverband Heilpädagogik, Berufsverband der Heilpädagogen BHPe.V.) erschienen.

 

 

 

 

Rezension

 

Heilmann, Joachim, Eggert – Schmidt Noerr,  Annelinde, Pforr, Ursula ( Hrsg.) : Neue Störungsbilder – Mythos oder Realität ? Psychoanalytisch – pädagogische Diskussion zu ADHS, Asperger – Autismus und anderen Diagnosen, Psychosozial Verlag , Gießen 2015

 

Um es vorweg zu sagen! Die Texte des Bandes 43 der Reihe Psychoanalytische Pädagogik sind alle fundiert, spannend und gut lesbar. Das hat man in Beitragssammlungen eher selten. Aber hier wird die Leserin / der Leser mitgenommen auf eine Reise, die jeden im pädagogischen Feld Tätigen angeht.

In den Texten findet eine kritische Auseinandersetzung mit den neuen, fortschreitend differenzierter werdenden Klassifikationen von psychischen Störungen statt. Die Wirkung der Medizinisierung ist ambivalent. Einerseits mag sie zur besseren Orientierung und auch Entlastung von Eltern und Fachkräften beitragen. Andererseits wird dadurch oft eine Entschlüsselung des Sinnes von auffälligem Verhalten im aktuellen psychosozialen Kontext versäumt. Und natürlich muss auf der Suche nach neuen  ( heil )pädagogischen Antworten jeder individuelle Wege finden. Dabei sind die Beiträge und Falldarstellungen des Buches eine Hilfe. (vgl. „ Ihr sollt meine Diener sein“ Zur Herausforderung Psychoanalytischer Sozialarbeit von Birgit Wieland)

In „Schlangengrube Familie“ befasst sich Jürgen Wettig differenziert und theoretisch sehr gut unterlegt mit transgenerationalen Ursachen von Dissozialität und Gewalt. Der von ihm dargestellten Kombination zwischen unsicheren Bindungsmustern und inadäquatem Erziehungsstil als entscheidendem Prädiktor für die Entwicklung von Dissozialität, Gewalt und Anfälligkeit für radikales Gedankengut gilt es im pädagogischen Handeln sinnvoll zu begegnen.

Die Prävention des Entstehens dysfunktionaler Familienbeziehungen findet sich auch in anderen Beiträgen des in die drei Abschnitte „ Normalität und Abweichung“ , „ Störungsbilder im Wandel“ und „ Interventionen und ihre Rahmenbedingungen“ gegliederten Buches.

Interessant ist auch Eggert - Schmidt Noerrs Text zum Thema Burnout. Die Psychoanalytische Pädagogik geht „ von einem Subjektbegriff aus, der triebhafte Anteile, frühkindliche Prägungen und deren unbewusste Dynamik mit einbezieht. Grundlage der Psychoanalytischen Pädagogik ist deshalb die – jederzeit durch unbegriffene Strebungen und Motive gefährdete – Arbeit mit und an der Beziehung mit den KlientInnen“ (S. 218)

In „Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit“ schildert Christine Tomandl vom Rudolf Ekstein Zentrum Wien Erfahrungen ihrer Arbeit in der Begleitung von Schülern mit emotionalen und sozialen Störungen im inklusiven Unterricht. Sie greift die anfangs gestellte Frage nach den neuen Störungsbildern auf. Ihrer Meinung nach gibt es keine neuen Störungsbilder, sondern allenfalls neue Erscheinungsformen. Es ist der veränderte Blickwinkel auf als schwierig erlebte junge Menschen und die daraus resultierenden pädagogischen Möglichkeiten. Die Psychoanalytische Pädagogik leistet einen erhellenden Beitrag im Diskurs, hinterfragt veränderte Sozialisationsbedingungen und gibt Denkanstöße zum angemessenen Umgang mit Betroffenen.

 

Unbedingt lesenswert !

 

Sybille Lenk

 

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Rezension

 

Seifert- Karb, Inken ( Hrsg.) : Frühe Kindheit unter Optimierungsdruck – Entwicklungstherapeutische und familientherapeutische Perspektiven, Psychosozial – Verlag, Gießen 2015, 320 Seiten

 

 „Wer das erste Knopfloch verfehlt – kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurecht“ Goethe

 

Der Psychosozial- Verlag legt eine hochinteressante Sammlung von Beiträgen der 18. Jahrestagung der Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit vor.

„Häufig gebrauchte Stichworte wie Optimierungsdruck, frühkindliche Bildungsoffensive, Leistungsdruck, Förderwahn, Profit- und Marktorientierung, ökonomische Zwänge trotz

Überfluss- und Wegwerfgesellschaft, Beschleunigung der Lebensweise, Schnellfeuerkultur, Fastfoodgesellschaft, elektronische Kommunikations- und Informationsgesellschaft, Erziehungskrise und Helikopter – Elternschaft lassen erahnen, in welchem Maße Faktoren des sozialen Wandels bereits die Phase der frühen Kindheit erfasst haben“ (S.9) . Gegenwärtig scheinen trotz Vorsorge und Früherkennung sowie früher therapeutischer Interventionen Verhaltensauffälligkeiten ganz junger Kinder , multiple psychosoziale Belastungen und daraus folgende Kommunikations-, Beziehungs- und Erziehungsprobleme zuzunehmen. Diese beunruhigende Entwicklung drängt zur Klärung. Dazu leistet dieses Buch einen wichtigen Beitrag.

Die Bindungsthematik spiegelt sich in den einzelnen Beiträgen – angefangen mit dem vorgeburtlichen Dialog, fortgesetzt im primären Dreieck der frühen Eltern – Kind – Beziehung bis zur Eingewöhnung in den Kindergarten, wieder. Besonders spannend war für mich der Beitrag zur psychoanalytisch – familientherapeutischen Eltern – Säuglings- Behandlung mit einem sogenannten Schreikind. Dieses agiert die frühe Beziehungserfahrung seiner Eltern aus. Und hier wird auch am Fallbeispiel der Bezug zu den ebenfalls im Psychosozial – Verlag erschienenen „Vergessenen Kindern der Globalisierung“ (vgl. heilpaedagogik.de 3 / 2016) hergestellt und in seinen Auswirkungen auf die Enkel beleuchtet.

Im vorgestellten Lausanner Spiel zu Dritt lernt die Leserin / der Leser eine Methode kennen, mit der relativ schnell Aufschluss über familiäre Interaktionsmuster erhalten werden kann und sich somit ein Ansatz für familientherapeutische Arbeit  darstellt.

Allein wegen dieses Beitrages „Verstehen, wie es anfängt...“ von Inken Seifert – Karb hätte sich der Kauf des Buches für mich schon gelohnt.

Aber auch der Text zur transgenerationalen Weitergabe von Gewalterfahrungen in der Kindheit verdeutlicht , welche Dynamik Gewaltausbrüchen zu Grunde liegen  und wie diese therapeutisch bearbeitet werden kann. Auf der anderen Seite stehen die Schwierigkeiten, einen therapeutischen Zugang zu Kindern und Jugendlichen mit frühkindlichen Gewalterfahrungen zu bekommen, im Fokus. Diesen Teufelskreis gilt es durch Prävention und rechtzeitiges Installieren von frühen Hilfen zu unterbrechen. Diesem Thema sind mehrere Beiträge gewidmet. Und auch hier sei ergänzend auf das Buch „Kinderschutz in der frühen Kindheit – Ein Leitfaden für die Praxis“ (heilpaedagogik.de 1/ 2016) verwiesen.

 

Sybille Lenk

 

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Rezension

 

Merbeth- Brandtner,O. : Pau und die Wut – Über ein starkes Gefühl und wie man damit umgeht, Mabuse – Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017

 

Während eines Elternabends zum Thema: „ Wie Kommunikation mit Kindern gelingt“, ging es unter anderem darum, wie mit Wutanfällen von Kindergartenkindern wertschätzend und empathisch umgegangen werden könne.

Hätte ich damals „ Pau und die Wut“ schon gekannt,  der Einsatz dieses Buches wäre meine dringende Empfehlung gewesen.

Olli Merbeth- Brandtner ist Erzieher in einem Kindergarten und Vater von zwei Kindern.

Nach dem Tod des dritten Kindes entstand dieses einfühlsam verfasste und wunderbar illustrierte Buch, von dem man hofft, dass es viele Leserinnen und Leser erreicht.

Der Autor betont, dass – auch wenn es in der Geschichte nicht vordergründig um Trauer geht – die Wut als eine mögliche Reaktion auf Verlusterfahrungen verstanden werden muss.

Dass Wut in sehr unterschiedlichen Gewändern daherkommen kann, wird dem kleinen Leser durch die unterschiedlichen jeweils eine Seite dominierenden Farben und durch die Verwandlungen des Helden Pau in Tiere deutlich.

Und dass man Hilfe bekommen kann, um aus dieser Wut wieder herauszukommen, ist tröstlich und unterstützt das Kind über Identifikationsprozesse darin, am Umgang mit diesem starken Gefühl zu wachsen.

Die vom Autor so bezeichneten Wutseiten am Ende des Buches geben Raum für Gespräche und laden zur Visualisierung der Gedanken ein.

Wie immer in dieser Buchreihe findet sich zum Schluss ein kleiner Ratgeber für Erwachsene, der auch Laien in seiner Kompaktheit sehr verständlich hilfreiche Denkanstöße vermittelt.

 

Sybille Lenk

 

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Rezension

 

Zimmermann, David: Traumapädagogik in der Schule – pädagogische Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen, Psychosozial – Verlag, Gießen 2016, 200 Seiten

 

Traumatisierte Kinder und Jugendliche, die in den Hilfen zur Erziehung betreut und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie therapiert werden,  sind nicht plötzlich unbelastet, nur weil sie sich in der Schule befinden. Insofern ist das vorliegende Buch wichtig und lange erwartet.

Aus der Verantwortungszuschreibung für gelingende Entwicklungsprozesse an die Pädagogik allgemein, ganz besonders jedoch für die Arbeit mit jenen jungen Menschen, für die Schule und Jugendhilfe oft den einzigen stabilen Bezugsrahmen darstellt, ergibt sich der Auftrag an die Arbeit mit schwer belasteten Schülern.

David Zimmermann beschreibt in seinem spannenden, gut lesbaren Buch sowohl theoretisch als auch am Beispiel forschungsbasierter Falldarstellungen sehr genau die Merkmale traumatisch beeinträchtigter pädagogischer Beziehungen.

So werden alle Thesen stets auch auf größere soziale und wirtschaftliche Dimensionen hin untersucht. Denn weder individuelles Leid noch pädagogische Professionalität im Umgang mit jenem Leid sind ohne den Bezug zu den gesellschaftlichen Bedingungen, z. B. in Hinblick auf Inklusion, vorstellbar.

Zimmermann klärt zunächst die relevanten Begriffe und erläutert davon ausgehend das Verhältnis von Traumapädagogik und Traumatherapie. Er stellt fest, dass sich Lehrerinnen und Lehrer von keiner Schülergruppe derart nachhaltig herausgefordert fühlen, wie von den schwer emotional – sozial belasteten traumatisierten Kindern und Jugendlichen.

Herzstück des Buches bilden forschungsbasierte Interaktionsgeschichten traumatisch beeinflusster Beziehungen. Dabei umfasst das Forschungsfeld einerseits Grund- und Gesamtschulen und andererseits Sprachlernklassen für Geflüchtete sowie Förderschulen mit dem Schwerpunkt sozial – emotionale Entwicklung. Es geht um Beziehungsgestaltung mit (beziehungs) traumatisierten Kindern in der Ambivalenz von Halten und Fordern bzw. Bewerten von Leistung. „Dabei ist zu beachten, dass zu große Nähe von Schülern als hoch bedrohlich erlebt werden kann, weil hierbei Aspekte und vor allem nicht symbolisierte Affekte der beziehungstraumatischen Erfahrungen reaktiviert werden.Die zu große Nähe wird u. U. zu einer Grenzüberschreitung, wenn keine langfristige Beziehungsperspektive möglich ist .“(S. 158) Die Reinszenierung traumatischer Erfahrung muss in ihrer für das Kind inneren Logik – dem guten Grund – für das als problematisch erlebte Verhalten entschlüsselt werden, da sonst narzisstische Verletzung, die zum Beziehungsabbruch führt, droht. In diesem Zusammenhang setzt sich Zimmermann sehr kritisch mit der Dominanz von Verhaltewnsmodifikationen und immer neuen didaktisch – methodischen Rafinessen als vermeintlicher Lösung auseinander. Vielmehr stellt er Inhalte seiner Weiterbildungsreihe, die auf einem psychoanalytisch fundierten und schulpädagogisch nutzbaren Fallverstehen basiert, vor. Die Ergebnisse werden evaluiert und ermutigen die Leserin / den Leser durch eine solche Weiterbildung eigene Haltungen zu überprüfen und  Handlungskompetenzen zu erweitern.So könnte der pädagogische Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen – die institutionelle Verantwortungsübernahme der Bildungspolitik vorausgesetzt – besser gelingen. Dass dies unbedingt nötig ist, daran lässt der Autor dieses sehr zu empfehlenden Buches keinen Zweifel.

 

Sybille Lenk

 

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